Kanzleiheraldik

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Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg als Sitz der ReichshofkanzleiW-Logo.png

Kanzleiheraldik (teilweise auch „diplomatische Heraldik“ genannt) ist

  • im weitesten Sinn (abwertend): eine Bezeichnung für das gesamte Wappenwesen einer heraldischen Kulturepoche (abwertend: die „Verfallszeit der Heraldik“), die ungefähr vom 16. bis 19. Jahrhundert reicht.
  • im speziellen Sinn (abwertend): eine Bezeichnung für das seit etwa dem 16. Jahrhundert von den staatlichen (Hof)Kanzleien und den Hofpfalzgrafen beeinflußte Wappenwesen.

Ursachen

Etwa ab dem 16. Jahrhundert ging der direkte Zusammenhang zwischen der Wappenkultur und dem ursprünglichen heraldischen Kriegswesen, Hofleben und Turnierwesen verloren. Wappen wurden ab dieser Zeit nicht mehr im Zusammenhang mit aktiven Kriegswesen („Kriegsheraldik“) und den historisch wirklich im Kampf verwendeten Waffen (also im wesentlichen mit den Schutzwaffen Helm, Rüstung und Schild) entworfen und geführt. Sie standen auch nicht mehr in der Tradition des aktiven Turnierwesens („Turnierheraldik“), sondern gewissermaßen im wirtschaftlichen Fokus „der Hofkanzlei und der Hofpfalzgrafen“ und des Kaisers.

Praxis der Kanzleiheraldik

Charakteristisch für die Kanzleiheraldik ist vor allem:

  • daß sie Wappenverbriefungen/-beurkundungen aus eher pekuniären Interessen, um die Einkünfte der kaiserlichen Kammer zu mehren, unkritisch und ohne wirklich fundierte genealogisch-heraldische Prüfungen verfolgte und vorantrieb.
  • daß sie „modische“ und anachronistische Elemente in das Wappenwesen einführte, die nur auf dem Papier vorkamen beziehungsweise mit dem Wappenwesen der Früh- und Blütezeit und der Turnierheraldik nicht vereinbar sind.
  • daß sie „blumig-weitschweifige“ und teilweise inkonsistente, uneinheitliche und nicht wohldefinierte Blasons verfaßte sowie Anordnungen durch Wappendiplome vorschrieb, die traditionelle heraldische Regeln verletzten.
  • die Deckung einer Nachfrage nach Statussymbolik/-erhöhung gegen Gebühr in Form von Wappenbriefen/-diplomen und Wappen; derartig „erkaufte“ Wappen sollten einen höheren sozialen Status des Wappenführenden suggerieren (→ Briefadel) und gewissermaßen ein Aufrücken in andere gesellschaftliche „Sphären“ ermöglichen (→ früher Geldadel); Wappenbriefe/-diplome wurden zu „Hunderten“ und „für Jedermann“ ausgestellt (teilweise mit Blankoflächen, in die der Wappenbriefempfänger nach Belieben einen Wappenaufriß einzeichnen konnte).

Die Praxis der Kanzleiheraldik wurde schon früh heftig kritisiert:

„(..) Die Zeitgenossen der oberen und unteren Stände gossen über die Einrichtung, ganz besonders aber über die Neulinge des Briefadels, die Schale des beissendsten Spottes aus (..)“

Gustav Adelbert Seyler (1885-1890)[1]

Abgrenzung

Umgangssprachlich oder außerhalb der Heraldik wird die Bezeichnung Kanzleiheraldik synonym mit Papierheraldik verwendet.

Kanzleiheraldik/Papierheraldik, die von den staatlichen Kanzleien beeinflußte Heraldik, als diese nicht mehr auf wirklich geführten Waffen beruhte.“

Brockhaus Enzyklopädie (1976)[2]

Streng genommen liegt jedoch beim Paar Kanzleiheralidk-Papierheraldik keine strikte Bedeutungsgleicheit vor. Der Begriff Papierheraldik umfaßt weniger die durch staatliche Kanzleien beeinflußte Heraldik, sondern kulturelle und stilistische Aspekte einer Heraldik jenseits der Beeinflußung durch Kanzleien, die insbesonere im Zusammenhang mit dem Briefadel, Wappenbriefen/-diplomen etc. stehen.

HW Gtk-go-forward-ltr.png Hauptartikel: Papierheraldik

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Seyler, Gustav Adelbert: Geschichte der Heraldik. Wappenwesen, Wappenkunst, Wappenwissenschaft. In: J. Siebmachers großes Wappenbuch. Band A. Repgrografischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1885-1889 (1890). Neustadt an der Aisch. 1970. S. 394-
  2. Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 9. 1976.